Vor siebzig Jahren im Schloss Groß Glienicke

Beitrag vom 15.11.2015 aus den Treffpunkten Winter 2015

Vor dem Umbruch

Sie war 10 Jahre alt, als Ehrentraud Possin mit ihrer Mutter aus Baerwalde in der Neumark im heutigen Polen nach Groß Glienicke geflüchtet war. Sie weiß noch ganz genau die alte Adresse: Breiter Gang 294.

Es war Ende 1944. Sie erwischten noch einen der letzten Züge über die Oder, bevor die Eisenbahnbrücke gesprengt wurde. Ihr Ziel war das Gut Groß Glienicke, wo ihr Vater Paul Possin als Gutsinspektor eingesetzt war. Zu diesem Zweck war er extra vom Militär freigestellt worden.

Schloss Groß Glienicke
Quelle: Kladower Forum e. V. Archiv Werkstatt Geschichte

Das prachtvolle Schloss Groß Glienicke stand auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe des repräsentativen Spandauer Tores. Dekorative Stallungen und Wirtschaftsgebäude bildeten den Schlosshof. Dort mitten hinein hatte man einen kleinen Bunker gesetzt. In Richtung Groß Glienicke war das ganze Ensemble begrenzt von dem kleinen Häuschen der Gärtnerei Jede mit dem Anbau eines für damalige Verhältnisse großen Gewächshauses.
1945 – kurz vor Kriegsende – lebte eine bunt zusammengewürfelte, aber gut funktionierende Hausgemeinschaft im Schloss Groß Glienicke. Familie Possin bewohnte im ersten Stock eine Zweizimmer-Wohnung mit Küche. Die beiden großen Brüder von Ehrentraud, Karl und Wilhelm, waren als Soldaten an der Front. In einem eingezäunten Stallgebäude waren russische Kriegsgefangene untergebracht. Sie mussten die landwirtschaftlichen Arbeiten verrichten, sowohl bei dem Vieh in den Stallungen als auch auf den Feldern.

Ihre Wachmannschaften wohnten mit im Schloss, wie auch eine Sekretärin mit ihrem Sohn und auch die Köchin Frau Chmielewski mit Sohn Paul. Sie kochte auch für die Wachmannschaften, nur für die Gefangenen kam ein Lieferauto mit „Fraß“.

Leider funktionierten die Toiletten nicht mehr, die Sickergruben waren überfüllt und auf Abhilfe war nicht zu rechnen. So wurde eine kleine Grube gegraben und zwei Bretter darüber gelegt. Wenn sie voll war oder starke Gerüche verbreitete, wurde sie zugeschüttet und eine neue gegraben.

Rittergut Groß Glienicke Spandauer Tor
Quelle: Kladower Forum e. V. Archiv Werkstatt Geschichte

Gesellschaftsspiele. Ein Russe fertigte für Traudchen, wie sie genannt wurde, einen sehr hübschen Ring, für den er 5 RM bekam. Nebenbei lernte sie die allerschlimmsten russischen Schimpfwörter, die sie heute nach siebzig Jahren zum großen Teil noch beherrscht. Der junge Paul Chmielewski musste oft versteckt werden, weil er jüdisch aussah.

So vergingen die letzten Kriegsjahre bis zum Zusammenbruch.

Die Russen kommen!

Der Einmarsch der Russen erfolgte vom Dorf Groß Glienicke her. Während des Kampfgeschehens hatten sich Mutter und Tochter Possin im Bunker versteckt. Als dieser ihnen zu eng und unheimlich wurde, schlichen sie zu den anderen Bewohnern ins Schloss. Keine Erinnerung hat die damals Zehnjährige daran, wo sich ihr Vater zu der Zeit aufhielt. Die Frauen hatten sich auf eventuelle Übergriffe vorbereitet mit Nadeln in den Taschen oder Traudchen sollte ganz laut schreien; doch glücklicherweise war das alles nicht notwendig.

Die russischen Soldaten besetzten das Schlossgebäude, randalierten, schlitzten die Betten auf und warfen sie aus dem Fenster, so dass die Federn als große Wolke herunterkamen. Auch die übrige Wäsche flog hinterher. Frau Possin hatte unter einer Lampe Gänseküken ausgebrütet. Sie wurden als Spielzeug benutzt und später mit einem Dolch aufgespießt. Überall im Garten waren sie dann zu finden. Auf der dunklen Kellertreppe lag ein mit Bauchschuss verwunderter deutscher Soldat. Er wurde verbunden und gerettet. Nach Jahren kam er wieder vorbei, um sich zu bedanken. Der Sohn von Gärtnermeister Jede war durch eine explodierende Handgranate gestorben. Sein Vater hatte dabei sehr schwere Beinverletzungen davon getragen. Trotz des schweren Verlustes ihres Sohnes hatte die Familie Jede in den 50er Jahren die Courage aufgebracht, im Dorf Kladow einen Blumenladen zu eröffnen.

Die ehemals gefangenen russischen Soldaten kamen mit Wodka und Delikatessen vorbei, um ihre Befreiung mit den Deutschen zu feiern. Sie sagten über ihre Bewacher und besonders über die Familie Possing nur Gutes und Positives aus. Jedoch ganz plötzlich waren sie verschwunden. Man sagte: In Russland seien sie später nicht gut angesehen gewesen.

Während der Russenbesetzung sollte Vater Possin mit der ganzen Familie als Gutsverwalter nach Russland abgeworben werden. Um von ihm die Zusage zu erreichen, wurde er mehrmals abgeholt und sogar gefoltert. Er kam stets traumatisiert am ganzen Körper zitternd nach Hause zurück. Er ist dann 1948 sehr früh gestorben. Die Familie Possin zog in ein kleines Inspektorenhäuschen, das sie später erwerben konnte.

Kindergruppe am Groß-Glienicker See
Quelle: Ilse Engelke

Nach dem Kriegsende wurde bei dem Potsdamer Abkommen Berlin in vier Sektoren aufgeteilt. Jede Besatzungsmacht bekam einen Flughafen, die Briten Gatow. Westlich des Ritterfelddammes wurde ihnen Glienicke West als Interessengebiet im Austausch mit West Staaken zugesprochen. Nachdem im Gut Groß Glienicke der Schlagbaum mehrmals verschoben wurde, war dann der Graben die endgültige offizielle Grenze, die somit auch mitten durch den Glienicker See verlief. Das Schloss Groß Glienicke gehörte folglich zu West-Berlin. Aus Frust darüber machten die russischen Besatzer ein Lagerfeuer auf dem Parkettfußboden und brannten das gesamte Schloss ab. Die Feuerwehr wurde am Löschen gehindert.

Ehrentraud Possin besuchte die Dorfschule in Groß Glienicke und ging zum Konfirmandenunterricht zu Pfarrer Bachmann nach Kladow und dann zu Pfarrer Stinzing nach Groß Glienicke.

Hanne Ritter